Dem Schweren Erben Unserer Vorfahren Gerecht Werden…

Yevgeniy_Korsunskyy

Geschrieben von Yevgeniy Korsunskyy, BWL-Diplomand an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hannover

 

Es war ein sonniger Tag im Oktober 1991. An diesem Tag wurde ich im Rahmen der Zeremonie zum Andenken an den 50sten Jahrestag der Massenerschießung der jüdischen Bevölkerung meiner Geburtsstadt zum ersten Mal, sowohl mit dem Holocaust, als auch mit der Geschichte eines 10-Jährigen Jungen konfrontiert, der im Holocaust seine ganze Familie verlor, mehrere Selektionen und Durchsuchungen überstand, eine Erschießung überlebte und 45 Jahre später mein Großvater wurde. Ich kann mich noch an jedes Detail erinnern, als wäre es gestern gewesen. Tausende vielleicht Zehntausende von Menschen wickelten sich einen weißen Band mit dem blauen Davidstern um den Arm und trafen sich an dem Sammelplatz, wo sich die Juden vor 50 Jahren versammeln mussten. Dann gab es einen langen Marsch. Kilometer für Kilometer mühte sich diese Prozession ab, bis sie das Ziel erreichte, den Graben am Rande des Universitätsstadions, wo damals über 11 000 Juden binnen der 24 Stunden ihr Ende fanden. Es gibt kaum Augenzeugen und Überlebenden. Jeder weiß, was an diesem Ort geschah aber nur Wenige sehen sich befugt etwas darüber zu sagen. Plötzlich merke ich, dass alle meinen Großvater bzw. sein Gesicht aufmerksam und erwartungsvoll anschauen. Liegt es vielleicht an der Narbe, die sein ganzes Gesicht verzerrt, komisch ich habe davor nie verstanden, woher seine tiefe und lange Narbe stammte, die eine seiner Wangenhälften mit der anderen verbindet. Da keiner aus der Familie mir eindeutig die Geschichte dieser Narbe erklären wollte, habe ich intuitiv gespürt, dass sie in Verbindung mit irgendeinem furchtbaren Geheimnis steht, was vor einem 6-Jährigen verborgen werden sollte. Ich merke aber jetzt, dass die vielen Blicke diese Narbe zu interpretieren wissen. Sie ist für sie die leise Bestätigung dafür, dass mein Großvater, diesen Weg nicht zum ersten Mal macht, sie ist ein Beweis dafür, dass er vor 50 Jahren am Rande einer solchen Grube stand und das Geschehen danach überlebte. Mein Großvater nimmt mich an der Hand und geht nach vorne. Ich bin sehr nervös. Es ist ungewohnt für mich ganz vorne vor so vielen Menschen zu stehen, um die Aufregung loszuwerden, versuche ich mich abzuschalten, deswegen überhöre hier das Wesentliche an der Geschichte, die mein Opa allen erzählen möchte. Plötzlich nimmt er mich in seine Arme und ich merke und ich sehe all die Menschen, die ihre Köpfe gesenkt halten und ihre Tränen zu verstecken versuchen. Die Stimme meines Großvaters bebt: „Seht ihr, ich habe überlebt und das ist mein Enkelsohn. Er ist ein lebender Beweis dafür, dass ich überlebt habe, sein späteres Leben und das Leben seiner Kinder werden Existenz meiner Eltern und meiner Schwestern und des gesamten jüdischen Volkes fortsetzen!“

Mit kribbelndem Gefühl im Bauch assoziiere ich, dass sich geradeeben etwas Gewaltiges ereignet hat, was ich aber noch nicht ganz nachvollziehen kann. Als ich älter wurde, verstand ich, dass mein Großvater mich damals in den Bund der Überlebenden aufnahm, seitdem muss ich mit dieser großen Verantwortung leben und die jüdische Experience meiner Vorfahren an die späteren Generationen weiterzugeben. Erst nach vielen Jahren konnte ich realisieren, wie ich diese Herausforderung bewältigen und dieser Verantwortung gerecht werden könnte: Ich muss es meinem Großvater gleichtun und um jeden Preis mich mit meinem Judentum identifizieren können und mit meinem Beispiel anderen Leuten Kraft und Mut "Dank der Jewish Experience wurde ich überzeugt, dass es sehr wohl eine jüdische Lebenswelt in Deutschland gibt, auch wenn sie sich nur auf Frankfurt am Main beschränkt, eine Stadt, die nicht von den Konflikten zwischen den Aschkenasim und Sephardim, Einheimischen und Neuzugewanderten, Jungen und Alten, Religiösen und Säkularen zerrüttet ist.." zu geben, sich nicht vor ihrer Identität zu verstecken. Inzwischen in Deutschland angekommen und wollte ich zunächst durch das Selbststudium, die Jüdische Gemeinde meiner Stadt, Machanüoth der ZWST, Lauder Foundation und Bildungsseminare meine Wissenslücke im Judentum beseitigen. Da ich bemerkt habe, dass in der Jüdischen Gemeinde das Jugendzentrum die einzige Institution war, wo den nach der Identität umherirrenden Jugendlichen Hilfe geleistet wurde, sah ich mich in der Pflicht als Madrich und später als Rosch mich auf diesem Gebiet zu engagieren. Ich war festentschlossen den Jugendlichen etwas wiederzugeben, was ich selber damals so schmerzlich meiner Zeit vermissen ließ: das gegenseitige Verständnis und gegenseitige Unterstützung, Zusammengehörigkeitsgefühl, Stolz sein und Freude haben an der eigenen Religion, Geschichte und Kultur. Leider musste ich in den neun Jahren meiner aktiven Jugendzentrumstätigkeit erfahren, wie schwierig es sein kann, dieses selbstverständliche Ziel zu erreichen, wenn es in einer Stadt vier untereinander konkurrierende Gemeinden gibt, die alles andere als bereit sind zumindest ihre Jugend unter einer gemeinsamen jüdischen Agenda zu vereinigen. Meine Bestrebungen in diese Richtung mussten gegen die Grundhaltungen der Gemeindeverantwortlichen: „Konkurrenz belebt das Geschäft!“ oder „Die Zeit der Einheitsgemeinden ist abgelaufen!“ ankämpfen. Ich war verzweifelt, denn gerade aus der Thora und unseren Geschichte schöpfte ich den Glauben, dass das Zusammenhalt und Einheit, Offenheit und Füreinander, und nicht Konkurrenz und Feindschaft, Egoismus und Verschlossenheit das jüdische Volk in den schwierigen Zeiten ausgezeichneten. Im Endeffekt war ich zur Erkenntnis angelangt, dass es in Deutschland kein Ort gäbe, wo diese jüdischen Tugenden nicht ein Relikt aus der fernen Vergangenheit darstellen würden.

In meiner tiefen Depression dachte, dass es eigentlich unmöglich, sowohl für mich, als auch für die anderen Vertreter meiner Generation wäre dem schweren Erben unserer Vorfahren gerecht zu werden. Erst als ich die Einladung der Jewish Experience gefolgt bin und für Seminar Nachama nach Frankfurt am Main kam Möglichkeit bekam, sah ich, dass es Deutschland eine jüdische Gemeinde und Menschen gibt, welche sich gemeinsam dafür einsetzen, das jüdische Erbe von der Generation zu Generation weiterzugeben. Gleich bei meiner Ankunft wurde von der tollen Stimmung und der warmen Atmosphäre überrascht, die ich solange schmerzlich vermisst habe. Das wunderbar-jugendhafte Kabbalath Schabbath G*ttesdienst, das einzigartige Essen, wo selbst an die Sitzordnung gedacht wurde, wodurch es den neue Gästen deutlich leichter fiel, sich in die Gruppe zu integrieren, interessante Rabbiner Schiurim ließen bei mir letzte Zweifel verschwinden, dass ich endlich dort angekommen bin, wo ich all das ausleben und verwirklichen könnte, was sich mein Großvater damals für mich gewünscht hat, meinen jüdischen Geist zu entfalten.

Kaum zu glauben, dass ein solches Unterfangen, wie das Nachamu Schabbaton, das für über 70 Teilnehmer eine einmalige Möglichkeit bot, sich ihren Wurzeln, ihrer Religion und Kultur zu zuwenden, von einer Handvoll motivierter und engagierter Freiwilligen organisiert wurde. Aus meiner Erfahrung in der freiwilligen Arbeit weiß ich, dass ein solcher Einsatz nur dann möglich ist, wenn sich die Gruppe von einem Ziel inspirieren lässt und von vielen unsichtbaren Helfern unterstützt wird. Mein Lob und Respekt geht, daher auch an all die Sponsoren, an die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, an das Jugendzentrum Amichai und seinen neuen Rosch Zwi Bebera und an die vielen anderen Organisationen und Menschen, die nicht nur die Bedeutung ihrer eigenen Jugend wertzuschätzen wissen, sondern sich auch mit allen Mitteln bemühen ein Leuchtturm für die Jugendlichen und Studenten aus ganz Deutschland zu schaffen, der ihnen eine Möglichkeit schenken kann, die schönen Seiten des Judentums zu entdecken und auszuleben. Der Jewish Experience Schabbaton zeigte mir, dass doch ein Ort in Deutschland gibt, wo ich mich nach meinem Studienabschluss gerne hinziehen würde, denn davor schien es für mir schier unmöglich nach meinem Universitätsabschluss in Deutschland zu bleiben. Dank der Jewish Experience wurde ich überzeugt, dass es sehr wohl eine jüdische Lebenswelt in Deutschland, auch wenn sie sich nur auf Frankfurt am Main beschränkt, eine Stadt, die nicht von den Konflikten zwischen den Aschkenasim und Sephardim, Einheimischen und Neuzugewanderten, Jungen und Alten, Religiösen und Säkularen zerrüttet ist. Durch meine Teilnahme an diesem Jewish Experience Event fiel besonders auf, dass die Organisatoren(Polina, Meir, Inna, Lana und etc.), die Schlichot aus Israel, Rabbiner und Referenten es nicht nach den Unterschieden bei den Teilnehmern zu suchen wissen, sondern jeden Gast durch den gemeinsamen Nenner des jüdischen Geistes betrachten. Meine persönlichste Erkenntnis aus diesem Schabbaton: ich konnte zum ersten Mal nach 20 Jahren in der Luft ein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl spüren, ich konnte wieder der 6-Jährige Junge sein und den Glauben an die Stärke und Zukunft unseres Volkes wiedererlangen und dafür bin ich der Jewish Experience unendlich dankbar und hoffe, dass sie noch viele andere Events durchführen werden und vielen weiteren Jugendlichen ein Leuchtturm auf dem Weg in die jüdische Zukunft sein werden.